Sehhilfe für die Betrachtung der Monorisse
Geschrieben von Dr. Gabriele BielingRika Unger hat
ihren Monorissen keine Titel, gegeben um dem Betrachter
einen eigenen Zugang zu ermöglichen. Dennoch hat sie
sozusagen vier Leitmotive formuliert, unter denen man
die Graphiken betrachten kann:
● "Lichtblick im
Verhüllungsbereich"
● "Das Licht bricht sich Bahn"
● "Neue Horizonte brechen auf"
● "Vom Ich zum Du"
In diesen Titeln spiegelt sich zugleich die
Grundtechnik der Monorisse. Ihre Grundstruktur ist
gerissenes schwarzes Papier, an dem beim Reißen ein
weißer Rand entsteht und dessen Teile miteinander
verflochten sind. Das gerissene schwarze Papier ist
Symbol für die Zerbrechlichkeit unserer Wirklichkeit,
die Verflechtungen der gerissenen Streifen Symbol für
die Vielschichtigkeit menschlichen Lebens.
Der weiße Anriss, der beim Zerreißen des schwarzen
Papiers entsteht, war für Rika Unger Symbol einer neuen
Sichtweise, die bei der Zerstörung alter und beim Aufbau
neuer Strukturen entsteht. Der Monoriss hat seinen
Ursprung in einem doppelten Vorgang: dem Zerreißen, der
Zerstörung und dem neuen Verflechten und Aufbauen.
Verwandlung ist das Grundthema des Werkes von Rika
Unger, auch in ihren Skulpturen.
Zu den genannten Strukturelementen kommt ein weiteres
Element, die Farbigkeit. In dem weißen Rand des Papiers
findet sich sozusagen die erste Spur des Lichts, welches
sich dann in vielen Monorissen im Weiß fortsetzt oder
sich in Farbigkeit verwandelt.
"Das Licht bricht sich Bahn."
Weißes Licht enthält alle Farben des Spektrums. Dies
sind reine Farben. In den Monorissen spielt die
Verhüllung der Farben (Mischung mit Grau) eine wichtige
Rolle. Der Grauanteil einer Farbe erzeugt, wenn er
variiert wird, eine Tiefenwirkung - "Lichtblick im
Verhüllungsbereich", für Rika Unger ein Symbol dafür,
dass die Wirklichkeit für eine andere Dimension
gleichsam durchsichtig wird. Der Theologe Gerd Theißen
hat dafür den Ausdruck "transparente Erfahrung" geprägt
und meint damit Erfahrungen, in denen durch Worte oder
Bilder eine Tiefe aufgedeckt sichtbar gemacht wird, die
im Alltäglichen oft nicht wahrgenommen wird. Der Titel
"Neue Horizonte brechen auf" spricht diese transparente
Erfahrung in Bezug auf die Weite an, den Horizont, mit
dem jeder Mensch lebt. Horizonterweiterung im
existenziellen Sinn bringt Hoffnung.
Mit dem Titel "Vom Ich zum Du" (z. Zt. in der
Galerie) knüpft Rika Unger an das Dialogprinzip von
Martin Buber (1878-1965) an. Dieses Thema findet
sich auch in ihren plastischen Werk. Die Hinwendung "Vom
Ich zum Du" ist die Grundlage einer humanen
Gesellschaft, in der Frieden und Gerechtigkeit
verwirklicht sind.
In der Joseph-Kirche befindet sich auf der linken
Seite ein Zyklus zur Passionsgeschichte. Hier hat Rika
Unger Titel Genannt: "Hände des Pilatus", "Dornenkrone",
"Karfreitag", "niedergefahren zur Hölle", "Karsamstag".
Die sich daran anschließenden Monorisse symbolisieren
die Verwandlung vom Tod zum Leben, die Auferstehung.
© 2017 Dr. Gabriele Bieling,
Münster
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